Seelsorge – der verborgene Schatz der Gemeinde

„Seelsorge? Wozu? Ich habe keine Probleme!“ – Wenn mir dieser Satz begegnet, höre ich ihn jedes Mal mit Bedauern. Denn er verkennt das Wesen der Seelsorge und ihren unschätzbaren Wert für Glauben, Leben und Gemeinde. Seelsorge ist mehr und anderes als die Feuerwehr für Lebenskrisen, die wir nicht mehr anders unter Kontrolle bekommen.

 

Was ist Seelsorge?

Seelsorge ist die Dimension von Gemeinschaft, durch die Christen sich gegenseitig im Glauben stärken und bei der Lebensbewältigung unterstützen. Sie beginnt mit jedem ermutigenden Wort, mit jeder überlegt ausgewählten Grußkarte, mit jedem Gebet füreinander. Seelsorge öffnet unseren Alltag für die Gegenwart Gottes. Sie lässt Licht vom Himmel auf die täglichen Fragen unseres Lebens scheinen. Schon dadurch sieht es anders aus. Perspektiven tun sich auf, für die wir bisher blind waren. Manchmal wird auch etwas erkennbar, was sich ändern sollte. Immer aber wird klar, dass wir mit unseren Fragen nicht allein sind.

Weil sie ins Leben hineinwirkt, ist Seelsorge immer konkret. Wir sehen das schon bei Jesus, von dem alle Seelsorge ausgeht. Er befreit Zachäus durch seine Zuwendung vom Geiz (Lk 19,1-10). Am Jakobsbrunnen deckt er der Samariterin behutsam das Verhängnis ihres Lebens auf (Joh 4). Petrus wird nach seinem Versagen in der Karfreitagsnacht neu auf den Weg gebracht (Joh 21,15-17). Schon im Alten Testament finden wir Beispiele, wie Gott selbst für seine Leute sorgt. Nicht nur mit guten Worten, sondern auch durch körperliche Fürsorge (Vgl. 1 Kön 19,1-8).

 

Was bewirkt Seelsorge?

Seelsorge hat konkrete Wirkungen für Lebensmut und Lebensführung. Dabei kann der Glaubenshintergrund weit zurücktreten. Telefonseelsorge und Notfallseelsorge werden auch von Menschen in Anspruch genommen, die an gar keinen Gott glauben. Denn auch sie spüren ihre helfende und heilende Kraft. Weil sich Seelsorge auf das Leben im Jetzt und Hier richtet, ist sie auch jenseits der Gemeindegrenzen handlungsfähig. Mitunter finden sogar Menschen dadurch zum Glauben, dass sie gute Seelsorge erfahren.

Christliche Seelsorge beschränkt sich nicht darauf, den Glauben zu wecken oder zu stärken. Sie fördert das Leben insgesamt. Aber sie ist auch nicht vom Glauben zu trennen. Denn sie weiß, dass alles Leben von Gott ausgeht und auf ihn angewiesen ist. Auch das Leben derer, die das nicht wissen oder nicht wissen wollen. Die Quelle der Seelsorge ist das Vertrauen, dass bei Gott Leben in Fülle ist. Auch wenn wir es jetzt nicht in dieser Fülle erfahren, soll etwas davon im Alltag des einzelnen Menschen ankommen. Die Erfahrung wirksamer Seelsorge bleibt unverfügbar, weil darin Gottes Geist wirkt. Ich kann aber dazu beitragen, indem ich die Situation und das Anliegen meines Gesprächspartners erfasse. Dazu muss ich zunächst aufmerksam zuhören, ehe ich rede. Ich muss das Erleben des Anderen ernst nehmen und mich in seine Lebenswirklichkeit mit hineinstellen. Nur dann wird Seelsorge konkret. Und nur wenn sie konkret wird, kann sie den Anderen bewegen.

 

Wie geht Seelsorge?

Manchmal genügen ein gutes Wort oder eine halbe Stunde Zuhören, damit jemand aufatmen oder sein Leben neu anpacken kann. Manchmal steht dem aber mehr entgegen. Es können Widerstände im Menschen selbst sein, wie erlebte Enttäuschungen, aber auch eigene Unversöhnlichkeit. Erfahrene Gewalt kann nachhaltig für jeden Trost und jede Ermutigung verschließen. Psychische Krisen und Störungen können die Wahrnehmung so verändern, dass gut gemeintes Zureden abgleitet oder sogar das Gegenteil bewirkt. Auch schwierige Beziehungen oder äußere Lebensumstände können positive Veränderungen verhindern. Deshalb braucht es verschiedene Formen der Seelsorge, die auch unterschiedliche Kompetenzen erfordern.

 

Wer kann Seelsorge leisten?

Alle, die in ihrem Glauben eine Grundgewissheit haben und ihr eigenes Leben einigermaßen

meistern, können Seelsorge leisten. Voraussetzung ist, dass sie sich von ihren eigenen Fragen und Anliegen lösen, anderen zuhören und unverkrampft mit ihnen reden können. Manche Menschen sind besonders zur Seelsorge begabt, auch wenn sie sie nicht beruflich ausüben. Gemeinde sollte solche Begabungen dankbar aufnehmen und durch geeignete Bildungsangebote weiterentwickeln.

Das NT kennt neben anderen Ämtern das Amt des Hirten (Eph 4,11), der zur Fürsorge für den Einzelnen begabt und beauftragt ist. Für hauptamtlich Mitarbeitende in der Gemeinde ist Seelsorge meist Teil ihres Berufs. Deshalb werden sie schon in der Ausbildung darauf vorbereitet. Andererseits ist der eigene Prediger oder die eigene Jugendleiterin nicht immer die Person, zu der jemand mit seinem Anliegen gehen möchte. Berufl iche Seelsorger sollten deshalb akzeptieren, dass Menschen auch auf andere geeignete Helfer zugehen.

 

Beratung und Therapie

Nicht selten werden in der Seelsorge Nöte offenbar, die sich mit den Mitteln der Gemeindeseelsorge nicht bewältigen lassen. Anhaltende Lebenskrisen, Ehekonflikte oder Suchtverhalten brauchen in der Regel einen längeren Beratungsprozess, in dem die Probleme Schritt für Schritt methodisch angegangen werden. Oft werden dadurch tieferliegende seelische Konflikte oder Verletzungen erkennbar, die den Betroffenen so noch gar nicht bewusst waren. Deshalb sollten solche Beratungswege mit entsprechend qualifi zierten Beratern gegangen werden.

Niemand muss sich schämen, solche Beratung zu suchen. Es ist im Gegenteil ein Zeichen der Stärke, sich Hilfe zu suchen, weil man erkannt hat, dass man es allein nicht schafft. Geschulte Berater arbeiten oft freiberuflich und beanspruchen ein Gesprächshonorar. In der Regel ist dieser finanzielle Aufwand gut leistbar und im Rückblick für die allermeisten lohnend. Für diejenigen, die ihn nicht leisten können, haben Gemeinden und Beraternetzwerke verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten.

Schon seit einigen Jahrzehnten nutzen Seelsorge und Beratung auch Erkenntnisse und Methoden aus der Psychotherapie. Seriöse humanwissenschaftliche Erkenntnisse können eine große Hilfe sein, solange sie nicht das biblische Bild des Menschen oder die Realität Gottes in Frage stellen (vgl. 1 Thess 5,21). Bei psychischen Störungen mit Krankheitswert ist es notwendig, sich an einen Psychotherapeuten oder Psychiater zu wenden. Seelsorge, Beratung und Therapie sind drei verschiedene Ebenen, Menschen in ihrer Seele und in ihrem Beziehungsverhalten zu unterstützen.

Wer Seelsorge übt, sollte erkennen, wenn die eigene Kompetenz an eine Grenze kommt. Dann ist es angezeigt, meinen Gesprächspartner mit einer Person in Kontakt zu bringen, die über die notwendige Qualifikation verfügt. Manche Christen scheuen fachkundige Psychotherapie. Grundsätzlich wird jeder Arzt oder Therapeut, der seinen fachlichen Prinzipien folgt, den Glauben seines Patienten respektieren, auch wenn er ihn nicht teilt. Wenn die seelische Not damit zu tun hat, wie jemand seinen Glauben versteht, wird er darauf hinweisen. Dann kann ein erfahrener Seelsorger den Therapieweg begleiten und helfen, den Glauben so weiterzuentwickeln, dass er wirklich zum Leben dient.

 

Martin Leupold

Evangelischer Theologe und Seelsorger und Leiter des Weißen Kreuzes Deutschland

(www.weisses-kreuz.de)

 

 

 

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