Haben wir’s begriffen?

Sie sind längst nicht aus der Mode gekommen. Briefe! Die Art Schreiben also, die Goethe für »das wichtigste Denkmal, das ein Mensch hinterlassen kann« hielt. Briefe haben den Lauf der Geschichte oder auch das Leben von Menschen verändert. Mal beinhalteten sie Bedeutendes, mal Belangloses, mal Amüsantes, mal Skurriles. Einige spiegeln das Schicksal von Menschen, andere das ganzer Völker wieder.

Gut, heute ist das etwas anders. Wenige setzen sich noch hin, um einen handgeschriebenen Brief zu verfassen. Gewichtige Informationen werden uns aber nach wie vor per Brief zugestellt. Wenn das Finanzamt steuerliche Forderungen erhebt oder das Ordnungsamt uns einen Busgeldbescheid zukommen lässt, dann durch Briefe.

Zu den welt- und menschenverändernden Briefen gehört der Brief des Paulus an die Gemeinden in Rom. Martin Luther hat entscheidende Impulse für die Reformation durch diesen Brief erhalten. Durch das Lesen dieses Briefes sind Menschen zum Glauben an Jesus Christus gekommen.

Was aber macht diesen Brief so einzigartig und verleiht ihm eine so durchschlagende Wirkung?

Es ist das sich durch den ganzen Brief hindurchziehende Thema: das EVANGELIUM. In keinem seiner anderen Briefe nimmt sich Paulus so viel Zeit, wie im Römerbrief, um das EVANGELIUM vom Christus Jesus zu erklären. Wer dieses EVANGELIUM versteht, der begreift den christlichen Glauben und die ihm innewohnende befreiende und rettende Kraft für jeden Menschen.

»Wer den Römerbrief versteht, der versteht die Struktur nicht nur des paulinischen Denkens, sondern des Evangeliums und damit des christlichen Glaubens – eine Struktur, deren Fundament Gott und deren Zentrum Jesus Christus ist, dessen Tod und Auferstehung das seit Adam bestehende Sündenproblem der Menschheit gelöst und Heil bewirkt hat für alle, die an Jesus Christus glauben, für Juden wie für Griechen, für jüdische Fromme wie für heidnische Polytheisten.«

(Eckhard J. Schnabel in »Der Brief des Paulus an die Römer – Kap. 1-5«, HTA, © 2015 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten, S. 13)

Wenn Paulus vom EVANGELIUM spricht, dann redet er von einer »Guten Nachricht«, die über alle Alltagsneuigkeiten hinausgeht. Es handelt von einer Person – vom Christus Jesus, von dessen Geburt in Bethlehem bis zur Himmelfahrt. Das Zentrum dieses EVANGELIUMS ist der Tod am Kreuz und die Auferstehung des Christus Jesus. Die gute Nachricht vom Christus Jesus sagt uns also: Wer Jesus ist! … nämlich der Sohn Gottes, des sich erniedrigte und Mensch wurde (Phil. 2,5-11); Was Jesus getan hat! … am Kreuz starb er für unsere Schuld und Sünde und stand von den Toten auf (1. Kor. 15,3.4); Was Jesus bringt! … durch seine Auferstehung hat er den Tod und die Sünde überwunden und ermöglicht denen, die ihm glauben, neues, ewiges Leben (Kol. 2,13-15).

Diese »Guten Nachricht« wird aber nur für den zur guten Nachricht, der sie hört, ihr glaubt und sein Leben an Jesus Christus bindet. Aus diesem Grund muss das Evangelium öffentlich zur Sprache kommen, um jedem die Möglichkeit zur Entscheidung zu geben. Das ist Gottes ausgesprochener Wille (1. Tim. 2,4).

Deshalb haben die Christen, die auf Evangelisation und Mission verzichten, das Evangelium nicht begriffen. Schamlos setzen sie sich über den Willen Gottes hinweg.

Die ersten Christen aber hatten das EVANGELIUM verstanden. Die Gnade Gottes hatte sie verändert. Jesus hatte sie von der Macht der Sünde in all ihren hässlichen Erscheinungsformen befreit und ihnen ein neues Leben ermöglicht. Sie waren davon überzeugt – Paulus schreibt: »Denn die Liebe des Christus drängt uns« (2. Kor. 5,14) –, dass das Wichtigste, das ihre Mitmenschen brauchen, die »Guten Nachricht« von Jesus Christus ist. Deshalb fehlen, bei allen Mahnungen, die Paulus den Christen und Gemeinden weitergab, dringliche Apelle missionarisch tätig zu sein. Sie hatten verstanden und nutzen jede sich bietende Möglichkeit. Erfolg oder Misserfolg waren dabei für sie keine maßgeblichen Kriterien. Vom Christus Jesus sollten alle hören. Deshalb ließen sie sich von niemandem den Mund verbieten, auch bei Androhung von Gewalt.

Heute, scheint das alles in Vergessenheit geraten zu sein. Evangelisation ist zum Randthema geworden. Sie ist vom »Spielbein« zum »Holzbein« verkommen. Aller paar Jahre lassen sich dann doch einige für eine Evangelisation motivieren, aber das wars dann auch. Das Gewissen ist beruhigt und wir gehen zur Tagesordnung über. Unser Terminkalender ist ja auch zu voll, um an dieser Stelle häufiger aktiv zu werden. Und die Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus, der allein uns rettet, die passt doch nun wirklich nicht in unsere Zeit. Solche »intolerante Exklusivitätsansprüche sind gefährlich«, wie ein Bischof unterstrich. Und weil man niemanden verlieren möchte, hält man die Klappe und spricht lieber nicht von Umkehr, von gerettet sein und verloren gehen.

Andere verweisen auf die »die kleine Kraft« der Gemeinde und die wenigen Mitarbeiter. Evangelisation überfordert uns. Und andere tragen ihre scheinbare Erfolglosigkeit wie ein Banner vor sich her: »Bei der letzten Evangelisation haben wir Finanzen locker gemacht, geglaubt und gebet … und es hat sich niemand bekehrt!« Es war alles umsonst, heißt das doch, oder? Evangelisation bringt eben nichts. Für viele sind das gewichtige Gründe, die alle evangelistischen und missionarischen Aktivitäten im Keim ersticken. Aber sind das wirklich neue Erfahrungen?

Das EVANGELIUM vom Christus Jesus hat in keine Zeit der Weltgeschichte hineingepasst. Und es gab häufig nur sehr wenige, die es hören wollten. Schon im ersten Jahrhundert interessierten sich vornehme Frauen für das Judentum. Aber die Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus wollten weder Frauen noch Männer hören. Cicero meinte: »Schon das Wort Kreuz soll ferne bleiben nicht nur dem Leibe der römischen Bürger, sondern auch ihrem Gedanken, ihrem Auge und ihrem Ohr.« Deshalb waren einige auch der Meinung, dass diese »Irrlehrer« aus der Gesellschaft getilgt werden müssten. Die ersten Christen hätten allen Grund gehabt, angesichts der Bedrohung durch Folter, Gefängnis, Tod alles zu widerrufen. Aber sie taten es nicht, weil sie begriffen hatten: »Jesus – kein anderer Name rettet uns« (Apg. 4,12) und das soll jeder hören.

Sie machten sich keine Gedanken darüber, dass ihnen oft die Worte und die Überzeugungskraft fehlten, um Menschen die Jesus-Botschaft zu erklären. Aber sie nutzten ihre Möglichkeiten. Die Samaritanerin (Joh. 4) ist dafür ein treffendes Beispiel: Ohne allzu großes Wissen, aber mit einer umwerfenden persönlichen Erfahrung, bezeugt sie Jesus vor ihren Nachbarn. »Ich kenne mich nicht so in der Bibel aus. Und überhaupt fehlen mir häufig die richtigen Worte, um anderen etwas weiterzusagen!« erscheint auf diesem Hintergrund eher wie eine bequeme Ausrede oder ein Zeichen von Feigheit.

Aber, dass sich trotz klarer Jesus-Verkündigung, werbender Einladung zum Glauben an ihn und offener Gemeinden, nur wenige bekehrten, schreckte Christen durch die Jahrhunderte nicht ab. Warum auch sollte es uns besser ergehen als unseren Herrn Jesus Christus. Wer Johannes 6 liest erfährt, dass viele von ihm weggingen – selbst die, die er zu seinen Jüngern zählte. Christen, die das EVANGELIUM verstanden haben und Gottes Wort vertrauen, wissen, dass sie es aller Kreatur verkündigen sollen und Gott dafür sorgen wird, dass Menschen zu seiner Zeit zum Glauben an Jesus Christus finden.

Einer der einflussreichsten Theologen der Evangelisationsbewegung, John Stott, hat bereits vor knapp fünfzig Jahren geschrieben: »Lautet der erste Befehl Jesu ›Kommt!‹, so heißt der zweite: ›Geht!‹, und das bedeutet, dass wir zurückgehen sollen in die Welt, aus der wir gekommen sind, und zwar als Botschafter Christi.«

Lasst uns deshalb intensiv auf das EVANGELIUM vom gekreuzigten und auferstandenen Christus Jesus hören. Es ist die Botschaft, wenn wir sie kapieren, die uns rettet und jeden, dem wir sie weitersagen und der ihr glaubt. Denn Jesus wird alle »die zu ihm kommen, nicht abweisen«.

 

Gunder Gräbner

Evangelist des Sächsischen Gemeinschaftsverbandes, Chemnitz